Die künstliche Intelligenz schafft neue Möglichkeiten der Erzeugung von Bildern. Erstmals sind alle Bildgebungstechniken der Kunstgeschichte in einem digitalen Werkzeug zusammengeführt. Erstellen lassen sich damit Bildmotive, die aussehen wie Fotografien, aber im traditionellen Sinne des Mediums eben keine sind. Was bedeutet das für die Fotografie im Allgemeinen und die dokumentarische Fotografie im Besonderen?
Der in Köln beheimatete Fotograf und Fotokünstler Bernd Arnold publizierte einen Band mit drei Essays, "Die Welt der Neuen Bilder", in denen er das Verhältnis dokumentarischer Fotografie und KI beleuchtet.
Mit Bernd Arnold sprach Stefan Hartmann
- Herr Arnold, das erste, das ich von Ihrem Essay-Band las, war der Rücktitel. Da schreiben Sie: »Das Vertrauen in die Authentizität einer dokumentarischen Fotografie ist fundamental für eine Demokratie«. Warum denn das? Was hat "Fotografie" mit "Demokratie" zu tun? Außer, dass es sich reimt...
Bernd Arnold: Um den Gedanken nachzuvollziehen lohnt es sich, den Ursprung der „Fotografie“ zu betrachten. Diesen könnte man auf die Entdeckung der Zentralperspektive durch den Florentiner Brunelleschi im Jahr 1425 zurückführen. Denn hier wurde ein Werkzeug gefunden, mit dem sich erstmals dreidimensionale Räume bildlich darstellen ließen. Damit wurde die Bildgebung der bis dahin vorherrschenden Bedeutungsperspektive abgelöst. Es war ein Wandel der Bilder von Piktogrammen hin zu Darstellungen von mit eigenen Sinnen wahrnehmbare Wirklichkeiten. Ich sehe darin die Entstehung eines frühen Dokumentarismus. Das zeigt sich beispielsweise in den Selbstportraits von Albrecht Dürer oder den Portraits von Giovanni Bellini im 15. Jahrhundert. Mit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg begann eine neue Form der Massenkommunikation, die einen breiteren Zugang zu Wissen einleitete. Die Zentralperspektive und der Buchdruck waren grundlegend für das Zeitalter der Aufklärung und damit auch Ausgangspunkt für die späteren modernen demokratischen Gesellschaften, wie wir sie heute kennen und lieben.
Wenn man nun die Malerei bis zur Erfindung der Fotografie im Jahr 1826 betrachtet, stellt man fest, dass Malerei und Zeichnungen zu großen Teilen aus einer Motivation des Dokumentierens heraus entstanden. So war die Erfindung der Fotografie kein Bruch mit der Malerei, sondern eine technologische Verbesserung, mit der Wirklichkeit analog auf einem materiellen Bildträger fixiert werden konnte. Es war der Höhepunkt einer Entwicklung von Werkzeugen für das Festhalten von wahrnehmbaren Wirklichkeiten. So ist es nicht verwunderlich, dass fotojournalistische und dokumentarische Fotografien in der Massenkommunikation zu den wichtigsten Dokumenten der letzten 200 Jahre wurden.
Als Beispiel seien hier nur die Fotografien genannt, die die Verbrechen der Nazis dokumentierten. Diese analogen Fotografien, deren übertragene Lichtspuren auf einem unflexiblen und unveränderbaren Bildträger fixiert waren und mit eigenen Sinnen wahrnehmbar sind, waren unerlässlich, um einem immer wieder aufkommenden Geschichtsrevisionismus begegnen zu können. Und wie wichtig Dokumente für den Erhalt von Demokratien sind, zeigt sich gerade in den aktuellen geopolitischen Entwicklungen.
- Nur wurde die Fotografie genauso von Diktaturen genutzt, Sie selbst sprechen in Ihrem Buch die berüchtigten "Stalins Retuschen" an. Zusammen mit dem Vertrauen in die Wahrhaftigkeit von Fotografie wurde ja auch der Retusche-Pinsel erfunden…
Was sich nun mit der Digitalisierung der Fotografie verändert, ist der Wechsel von einem mit eigenen Sinnen wahrnehmbaren, überprüfbaren, chemisch-physikalischen Bildträger zu einem digitalen. Hier werden die übertragenen Lichtspuren für ein Festhalten dekonstruiert und müssen, um gesehen zu werden, wieder rekonstruiert werden. In diesem Vorgang der Rekonstruktion ist alles möglich. Hier löst sich das Jahrhunderte alte Versprechen an einer Authentizität der Fotografie nach und nach auf.
Diktaturen können jetzt, neben vielem anderen, auch auf KI-Bildgeneratoren zugreifen und komplette Ereignisse mit Imitationen von Fotografie bebildern. Die Bilder fließen in Fernsehsendungen, Magazine und Schulbücher, landen in Museen und in historischen Bildarchiven. Und nach vielen Jahrzehnten wird es immer schwieriger nachzuweisen, was da eigentlich real war. Wir stehen erst am Anfang dieser technologischen Entwicklung der KI-Tools. Sie sind auf einem technologischen Stand, der vergleichbar ist mit den ersten Autos, die wie Kutschen aussahen.
- Einer der zentralen Begriffe Ihrer Diskussion ist der - von Ihnen komponierte - Terminus "Dichografie". Erklären Sie uns die Wortschöpfung kurz, denn nicht jeder war auf einem altsprachlichen Gymnasium mit Graecum. Aber wichtiger wäre für mich noch die Frage: Weshalb braucht es für KI-Bilder einen eigenen Terminus?
Wenn ein Bild, das exakt wie eine Fotografie aussieht, aber tatsächlich keine ist, so sollte man dieses in der Geschichte neue visuelle Phänomen anders benennen, um es eindeutig von Fotografie unterscheiden zu können. Sicher, man könnte es ja KI-Bild, Prompt, Synth oder Bling-Bling nennen. Aber die Dimension der Veränderung, die die Welt der Neuen Bilder mit sich bringt, wird über die gegenwärtigen Sales- und Marketingbegriffe vernebelt.
So scheint mir der Begriff Dichografie durchaus passend für ein neues visuelles Phänomen zu sein. „Dicho“ bedeutet „zweifach“ oder „doppelt“. Dichografie verweist zum einen auf das Binäre und zum anderen auf ein Paralleluniversum von Imitaten der Fotografie, die in den nächsten Jahrzehnten die medialen Kanäle auffüllen werden. Dichografien haben im Gegensatz zu Fotografien keine Historie. Sie bilden keine übertragene Lichtspuren einer vergangenen Realität ab. Sie sind reine Fiktion.
- Sie sprechen in Ihren Texten explizit von Dokumentarfotografie, dem Fotojournalismus. Wie bewerten Sie persönlich den Einsatz von KI in anderen fotografischen Bereichen? Etwa der Stockfotografie, der Werbe- und Produktfotografie oder der künstlerischen Fotografie.
Ich vermute, dass mit der Verbreitung der KI-Werkzeuge die Entwicklung der Bildwelt in zwei Hauptströmungen gehen wird: Die dokumentarische Fotografie (im weitesten Sinne) wird an Relevanz zunehmen und die digitalen Kompositionen werden die Welt der Neuen Bilder sein.
- Neuen Auftrieb hat die Diskussion um den Fotojournalismus ja durch die Bildberichterstattung des Gaza-Krieges erfahren. Hier tauchten KI-Bilder zum ersten Mal in größerer Anzahl auf, suggerierten, sie seien "echte" Dokumentaraufnahmen, tauchten in den Medien neben/gemixt mit "Realfotografie" gleichberechtigt auf. Glauben Sie, dass eine Kennzeichnungspflicht hier weiterhilft?
Wie es mit dem Fotojournalismus weitergeht, wird vom Bedürfnis der Konsumenten nach Authentischem bestimmt. Hier werden sich Verleger, Journalisten und Fotojournalisten entscheiden müssen, welchen Weg sie mit ihren Medien zukünftig gehen werden: Channel1 oder authentisch-dokumentarischen Journalismus? Für den faktenbasierten dokumentarischen Journalismus wird analog-tradierte Fotografie mit dem Versprechen der unverschobenen Lichtspuren ein wesentlicher Faktor sein. Der wird aber nur in einem KI-freien Umfeld als solcher wahrgenommen und in Zeiten der Desinformation, ein wichtiges Qualitätsmerkmal werden. Ich bin sicher, nicht wenige Menschen legen Wert auf authentische Quellen, Dokumente und Fakten.
- Anders angesetzt: Ist KI im Fotojournalismus wirklich in jedem Fall abzulehnen? Beispielsweise Kriegs- und Krisenfotografie ist ein sehr heikles "Geschäft", das vor Ort oftmals mit klaren Gefahren für den Fotografen verknüpft ist. Deshalb die Frage: Ist das hundertste authentische Bild einer beliebigen Bombenruine in Gaza wirklich die Gesundheit, gar das Leben, eines Bildjournalisten wert?
Dichografien sind „Malereien“, die Fotografie imitieren. Dichografen und Dichografinnen haben aber noch nicht die Fähigkeiten eines Goya. Doch auch Francisco de Goya musste als Zeuge vor Ort sein, um Anfang des 19. Jahrhunderts „die Schrecken des Krieges“ realitätsnah zeigen zu können. Gerade weil es immer weniger authentische visuelle Dokumente geben wird und durch KI-generierte Bilder ersetzt werden, muss es Menschen geben, die als Zeugen den Krieg gesehen haben, um die Wahrheit des fürchterlichen Grauens authentisch übermitteln zu können. Vielleicht müssen auch Fotografen und Publizisten überlegen, ob es nicht auch andere Formen der Darstellungen des Krieges gibt, die dokumentarisch Realitäten zeigt, ohne in Unterhaltung abzudriften.
- In Zusammenhang mit dem Siegeszug der KI-Motive wird gerne betont, dass KI ja bereits in den Kameras verbaut ist, in moderne Bildbearbeitungssysteme integriert. Wie kann vor diesem Hintergrund KI in der Fotografie überhaupt noch vermieden werden?
- Sie vertreiben Ihr Material ja über VISUM. Wie steht die Agentur - geleitet von Alfred Büllesbach, der ja selbst Fotograf ist - zu der Frage? Würde Visum KI-generierte Motive anbieten?
- Vielen Dank für das Gespräch!
Bernd Arnold, 1961 in Köln geboren, studierte Fotografie in Dortmund und schloss 1990 mit einer Bildserie über das Kölner Halbwelt-Milieu sein Studium ab. Seither arbeitet er kontinuierlich zu Aspekten der deutschen Gesellschaft mit den Schwerpunkten Religion, Politik, Medien und Wirtschaftswelt. Arnold veröffentlichte die Bücher „Das Kölner Heil“ (Bild oben) und „Wahl Kampf Ritual". Bernd Arnold ist Mitglied der DGPh, der DFA sowie VISUM – Agentur für Fotografie.
Bernd Arnold: Die Welt der Neuen Bilder: Dokumentarische Fotografie und KI
Verlag: morisel; 1. Edition (6. Oktober 2023)
Taschenbuch: 144 Seiten, Preis: 19,90 €
ISBN-10: 3943915603
ISBN-13: 978-3943915600
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