Ein Dachbodenfund?
Neue Haeckel Fotos bei ullstein bild
Die beiden Fotografen-Brüder Otto und Ernst Haeckel waren zu ihrer Zeit ein maßgebliches Fotografen-Duo in Berlin. Sie waren – gemessen mit den heutigen Augen – außerordentlich vielseitige Fotografen! Sie waren Hof- und Portraitfotografen des Adels und gehobenen Bürgertums in ihrem eigenen Studio, aber auch Kriegsfotografen im Ersten Weltkrieg und in der anschließenden Novemberrevolution, Gesellschaftsfotografen bedeutender Events, Sportfotografen, internationale Reisefotografen und nicht zuletzt: Street-Photographers... Ihre Aufnahmen des Berliner Großstadtlebens sind heute noch legendär.
Unterm Strich: Die Brüder mit Kamera waren in den Jahren von 1905 bis 1930 aus Berlin einfach nicht weg zu denken.
Die beiden waren natürlich entsprechend vielseitige Pressefotografen, deren Bilder in wichtigen Blättern wie Berliner Illustrirte Zeitung, Vossische Zeitung, Berliner Morgenpost, B.Z. am Mittag, Die Dame, Grüne Post erschienen. Und da haben wir natürlich die Brücke zu Ullstein, dem Verlag dieser Publikationen.
Der damalige Ullstein Bilderdienst kaufte später denn auch den bekannten Nachlass der Fotografen mit Glasnegativplatten und weiteren Kontaktabzügen.
Nun aber sind neue Bilder aufgetaucht! Sozusagen ein Dachbodenfund, immerhin insgesamt mehr als 1.000 Fotografien, die über Umwege nun auch zu ullstein bild gelangten.
Haben wir noch ein wenig Zeit, können wir noch einige Sätze zu den Fotografen und ihrer Vita verlieren?
Otto (1872-1945) und Georg (1873-1942) Haeckel wuchsen in der preußisch-schlesischen Kleinstadt Sprottau – heute in Polen: Szprotawa – als Söhne eines Kolonialwarenhändlers auf. 1905 machten sie sich dann – Mitte Dreißig – gemeinsam auf nach Berlin um dort als Pressefotografen zu arbeiten. Otto Haeckel bekam früh den Auftrag, eine Reise von Mitgliedern des deutschen Reichstags nach "Deutsch-Ostafrika" mit der Kamera zu begleiten, wo mehr als tausend Aufnahmen entstanden. Nach seiner Rückkehr starteten beide Brüder eine "Presse-Illustrationsfirma" in der Anhalter Straße. Von diesem Stützpunkt aus gestalteten sie ihre Karrieren als Gesellschaftsfotografen. Es folgte eine Zeit der Kriegsberichtserstattung während des Ersten Weltkriegs. Nach der Niederlage trennten sich die beruflichen Wege: Otto blieb weiter Pressefotograf, Georg suchte seine Zukunft dagegen in der Gründung eines Fotoateliers in Berlin-Lichterfelde.
Über die Fotografen und die deutliche Erweiterung des Fundus sprach Dr. Stefan Hartmann mit Dr. Katrin Bomhoff, Asset & Exhibition, ullstein bild / Axel Springer Ullstein Syndication GmbH.
- Frau Dr. Bomhoff, in dieser Sache haben Sie mich infiziert: In Ihrer Begeisterung für die Fotografie der beiden Haeckel-Brüder. Wie ist diese Begeisterung weiland bei Ihnen ausgebrochen?

Entscheidend dafür waren – wie so oft bei Sammlungen – der ungeschmälerte Einblick und die Arbeit mit der
Sammlung Haeckel. Sie als solche zu begreifen, lag nahe angesichts ihrer Herkunft und ihrer Entstehungsgeschichte und rechtfertigte ein eigenes
Haeckel-Projekt. So konnten alle bis dahin vorliegenden Originalfotografien recherchiert und digitalisiert werden. Wie Sie richtig feststellen, liegen nur bei ullstein bild die Glasnegativplatten, dazu die Kontaktabzüge der Haeckel Brüder, ein Findbuch und weitere schriftliche Dokumente, als Ganzes gesehen: der Nachlass. Angesichts der überlieferten Fülle des Bildmaterials fällt es nicht leicht, sich klarzumachen, dass wir es mit einem Bruchteil des Gesamtwerkes zu tun haben. Viele Aufnahmen, darunter die der zahlreichen in- und ausländischen Kooperationspartner Haeckels, sind über die Jahrzehnte, Kriegswirren und mannigfachen Vertriebswege schlicht verloren gegangen. Doch selbst die „Spitze des Eisbergs“, der erhaltene Bestand, ist extrem beeindruckend. Er lässt ahnen – und hier kommen wir zum Grund der Begeisterung nahezu aller Betrachter –, auf wie vielen verschiedenen Gebieten und mit wie vielen Möglichkeiten der Fotografie die beiden Brüder unterwegs waren.
- Diese Vielseitigkeit der beiden war es, die auch mich zu Beginn verblüfft hat.
Ja, kaum ein Genre, mit dem sie sich nicht beschäftigt haben, kaum ein Kontinent, den sie als Agentur nicht ergründet haben. Ihr Firmensignet und Leitspruch lautete nicht umsonst: „Photographien aus aller Welt“. Und dann die Bilder. Der Blick für die entscheidende Situation, Perspektive und Linienführung, das sichere Gespür für die Neuigkeit und den Aussagewert einer Fotografie, die konzentrierte Nähe zum Dargestellten. Lauter Kriterien, die zum gesicherten Erfolg in den Ullstein-Publikationen führten. Die Haeckel Brüder haben zweifellos Fotografiegeschichte geschrieben und ihre Arbeiten auf ein Niveau gebracht, das sich noch heute durchsetzt und komplett erkennbar bleibt. Nicht zuletzt, weil sie anstatt rein dokumentarisch oder gar amateurhaft geprägt zu sein, im besten Fall über sich hinauswachsen und -weisen. Nur ein einziges kleines Beispiel: der Berliner Tiergarten als Ort so unterschiedlicher Szenerien wie eine panoramahaft angelegte, prachtvolle Winterlandschaft, das Bildmotiv zweier kehrender Frauen voller sommerlicher Licht- und Schatteneffekte oder eine sichtlich verarmte Frau auf der Parkbank, zu der sich der Fotograf herunterkniet. Ungleicher und wirkungsvoller könnten die Bilder, allesamt Alltagsmotive, durch ihre Herangehensweisen kaum sein.
- Oftmals sehen wir diese beiden Fotografen fast schon als „Zwillinge“. Dazu trägt natürlich auch bei, dass in vielen Fällen die genaue Urheberschaft bei vielen Bildern unbekannt ist. War es Otto oder war es Georg? Können Sie die Werke der beiden stilistisch auseinanderhalten? Oder verschwimmt es? Oder ist das gar nicht wichtig?
Dem Phänomen der nur schwer zu unterscheidenden Urheberschaft bei Fotografenpaaren begegnen wir häufig, jüngst wieder anhand der diesjährigen
Ausstellung zu Sasha und Cami Stone in Charleroi zu beobachten. Denn die gegenseitige stilistische Annäherung eines Paares ist oft groß und weder die vorhandenen Zeugnisse noch die biographischen Details helfen hier entscheidend weiter. Noch nicht einmal die unterschiedlichen Fotografenstempel geben zuverlässig Auskunft. Sie sprechen zwar von der gemeinsamen Arbeit („Gebrüder Haeckel“) und auch von der späteren Arbeitsteilung und Trennung („Otto Haeckel“ und „Georg Haeckel“), doch sie erlauben in wenigen Fällen die sichere Zuschreibung an den ein oder anderen der Brüder. Eine der vielen und guten Aufgaben eines zukünftigen Ausstellungsprojekts!
- Eigentlicher Anlass unseres Gespräches ist ja der Zuwachs des Fundus der Brüder Haeckel bei ullstein bild. Die Agentur hält ja schon lange wesentliche Teile des Nachlasses der beiden. Nun aber ist es 2024 zu einem massiven Zuwachs gekommen, eine Fülle von unbekanntem neuem Material kam in Ihr Haus. Erzählen Sie uns kurz die Geschichte dieses unerwarteten Zuwachses?

Sie ist so kurz wie brisant und außerordentlich. Das Ehepaar Sabine und Arnold Krämer beschloss, sich mit dem über Jahre verwahrten Dachbodenfund aus dem letzten Wohnsitz Otto Haeckels in Berlin-Friedenau an ullstein bild zu wenden. Ein umfangreicher Teilbestand an Fotografien, der seinerzeit bei einem Wohnungswechsel als Schenkung in die Hände des Ehepaars Krämer gelangte. Ihre jetzige Schenkung wiederum an ullstein bild ist nicht nur eine großzügige Geste, sondern auch ein großes Glück für den Erhalt dieser Originalfotografien. Wir haben diesen Vorgang und seine Bedeutung in einem Text und Gespräch festgehalten und geben dort auch den Hinweis auf das komplette ullstein bild-Fotodossier dieses exzeptionellen Neuzugangs.
- Brachte dieser quantitative Zuwachs auch eine Erweiterung von Erkenntnissen über die Fotografen?
Ja. Einerseits bestätigten sich natürlich Themenschwerpunkte und das Können der Bildautoren. Andererseits lieferte der Neubestand bisher unbekannte Motive und Variationen, die auch Rückschlüsse auf das Vorgehen einer Agentur geben. Fotografien, die offensichtlich nicht in den Versand gingen. Fotoserien, die deutlich die Interessen- und Nachrichtenlage ihrer Zeit spiegeln. Fotografien, die von anderen, unbekannten Bildautoren stammen und eine völlig andere Sprache sprechen. Andere Fotografien, die so überaus gelungen sind, dass sie staunen lassen. Nicht zuletzt: Es handelt sich um einen weiteren Bestand mit eigener Genese. Denn jetzt haben wir es bei ullstein bild mit drei, statt wie bisher mit nur zwei unterschiedlichen Haeckel-Beständen zu tun: zunächst die Werke, die zu Lebzeiten von den Haeckels bei Ullstein eingeliefert wurden, dann der Nachlass, der in den 1960er Jahren durch den Ullstein Bilderdienst erworben wurde und nun der Fund aus dem damaligen Agentur- und Atelierbestand Haeckel.

- Was planen Sie nun mit dem neuen Material – salopp gesagt – anzustellen? Gibt es Pläne?
Für eine Fotoagentur wie ullstein bild ist es fast selbstverständlich, Bildmaterial dieser Güte aufzunehmen, zu digitalisieren, zu lektorieren und über die Bilddatenbank öffentlich zugänglich zu machen. Auf diese Weise findet es seinen publizistischen Weg, entsprechend der ursprünglichen Bestimmung und vergleichbar der Entstehungszeit. Auch die Originalwerke hält ullstein bild nicht unter Verschluss, um sie etwa dem Vergessen preiszugeben, sondern ermöglicht interessierten Besucherinnen und Besuchern hier in Berlin und den großen Ausstellungshäusern weltweit, die Fotografien zu betrachten, zu zeigen, auch zu erforschen und auf diese Weise immer wieder weiterzutragen und überhaupt erst „in die Welt“ zu bringen. Doch Fotografien wie die von Haeckel und auch die der gesamten fotografischen
Sammlung Ullstein bei ullstein bild brauchen stete Aufmerksamkeit, und die Antwort darauf lautet: Ausstellungen, Publikation, Arbeit mit den Originalen, die viele unserer Fragen an die Zeit und die Zeiten beantworten und uns den einzigen, wirklich unmittelbaren Eindruck verschaffen.
- Frau Dr. Bomhoff, vielen Dank für das Gespräch.
Bilder:
- Im Berliner Tiergarten, Eingenickt (Originaltext), vermutl. um 1910
- Spartakusaufstand 1919: Foto: Eduard Hohmann, Berlin Regierungstruppen vor dem mit Papierrollen verbarrikadierten Ullstein-Haus, Kochstrasse in Berlin, Originaltext: "Die 'Pressefreiheit' unter dem Schutz von Maschinengewehren u. Handgranaten"
- Frauen beim Zusammenkehren der Raupen im Berliner Tiergarten - undatiert, vermutlich um 1910er Jahre
- Schwammverkäufer auf der Straße Unter den Linden in Berlin, 1908
- Berlin: 'Partie am Landwehrkanal im Tiergarten' (Originaltext) im Winter – veröff. in: 'Zeitbilder' 8/1917
- Wilhelm II. Deutscher Kaiser 1888-1918 König von Preußen, Besuch des schwedischen Königs Gustaf V. in Berlin.
- Familie beim Umzug in Berlin. Originaltext: "Berlin Umzug 1908"
Anhang: Dr. Katrin Bomhoff, Foto ullstein bild